Der Gott der singenden Maschine

Godfried-Willem Raes baut in Belgien seit einem halben Jahrhundert Musikroboter, 50 davon reisen für ZEROTH LAW nach Berlin in die Deutsche Oper. Ein Werkstattbesuch in Gent

Er kommt sofort zur Sache, als ich in Gent bei der Logos Stiftung klingle. Erst die Musik, dann der Rest. Und so spielt mir der Gründer, Erfinder, Ingenieur und Musiker Godfried-Willem Raes gleich die Ouvertüre der »Dreigroschenoper« vor. Er setzt sich hinter ein automatisiertes Sousaphon an den Laptop und steuert einige der über 80 Musikroboter im Raum an. Orgeln mit Holz- und Metallpfeifen, Trommeln, ein Flügelhorn, eine Trompete und Apparaturen, die Raes entwarf und baute. Die Klänge sind akustisch, kein Ton elektronisch, kein Synthesizer in Sicht. Doch jeder Ton wird automatisch gespielt, ohne menschliche Hand oder Mund.

»Snar« ist eine mit 13 Schlägern automatisierte Snare Drum. Ein ähnliches Instrument hat Raes für den britischen Elektromusiker Aphex Twin gebaut © Sarah Bastin
 

In Kleinstaaten duzt man schnell, auch in Belgien. »Weißt du, Brecht wollte nur eine Drehorgel für die Dreigroschenoper. Aber Weill überzeugte ihn am Ende doch von Musikern – weil die billiger waren, als die Kartonrollen für die Orgel zu arrangieren, zu programmieren.« Raes lacht laut, weil die Anekdote das Gegenteil aller Maschinenstürmer erzählt. In diesem Fall hat der Mensch der Maschine die Arbeit weggenommen, nicht umgekehrt.

Von solchen Unterscheidungen hält er eh nicht viel: »Nichts ist menschlicher als eine Maschine – weil nur Menschen welche bauen können. Und ich weiß, wie das Publikum bei Konzerten Mitgefühl empfindet, wenn ein Roboter Probleme kriegt.« Wieder blitzt der Schalk aus seinen Augen, die oben von hohem Haar und unten von einem langen Bart gerahmt werden.

Raes im Tetrahedron, dem neuen Gebäudeteil und Konzertraum der Logos Stiftung. Den pyramidenförmigen Körper aus Stahl hat er 1990 selbst gebaut © Sarah Bastin
 

Anspruchsvoll sind besonders die Blasinstrumente. Wie soll man für die durch den vibrierenden Mund gepresste Luft eine technische Lösung finden? Der Erfinder pustet ohne Mundstück wie eine Trompete, dass die Lippen nur so flattern, und sagt: »Das ist ein enormer Druck, der zu sehr schnellen Bewegungen führt. Schwierig, das zu konstruieren.« Wir stehen vor dem »Autosax«, einem Tenorsaxofon, das er auf einem Flohmarkt fand. Es ist eines der ersten Blasinstrumente, das Raes automatisierte.

Die zündende Idee: »Man muss nicht zwingend blasen, man kann auch saugen, der Klang ist der gleiche. Also erfand ich einen Mechanismus, der die Luft schnell hin und her schickt, mal bläst, mal saugt.« Das erzeugt maschinell genug Druck, um die Silikonlippen auf dem Blättchen wie beim Saxofon in nuancierte, steuerbare Schwingungen zu versetzen. Oder bei einem Mundstück wie beim großen Sousaphon, wo sich zeigt, dass die Roboter von Raes nicht bloß menschliches Musizieren imitieren, sondern gewisse Dinge bes ser können – schneller spielen, oder in mehr Oktaven, als diese Form der Tuba es eigentlich kann.

Raes arbeitet seit mehr als 50 Jahren am Roboterorchester, er baut jeden Schaltkreis, lötet jede Platine und schreibt auch die Software selbst, die das Orchester zusammenhält, nun ja: dirigiert. Sein erster Roboter, 1968 gebaut, war tatsächlich ein Dirigent. Das hat ihn fast den Abschluss gekostet am Konservatorium. Ob ich den wohl sehen kann? »Ach, der liegt in einer Kiste, ohne Schaltkreise. Aber möchtest du hören, wie meine Roboter Wagners WALKÜRE spielen?« Es muss nicht wieder etwas Deutsches sein, also wähle ich Strawinskys »Le sacre du printemps«. Ein irres räumliches Erlebnis, wenn mitten in einer Phrase ein Instrument wechselt. Und das Mechanische passt gut zu Stücken der klassischen Moderne wie denen von Weill und Strawinsky, weil die Geräusche von Fabrik und Großstadt dort musikalische Echos fanden.

Das »Autosax« von 1989 war eines der ersten Blasinstrumente, das Raes automatisierte © Sarah Bastin
 

Rund 50 der Roboter werden in der Deutschen Oper Berlin auftreten in einer Produktion von Gamut Inc und dem RIAS Kammerchor. Marion Wörle und Maciej Śledziecki von der Gruppe Gamut Inc verbringen immer wieder eine Woche in Gent, um in der von Raes mitbegründeten Logos Stiftung mit einzelnen Musikrobotern des Orchesters zu arbeiten.

Riesige, gespannte Stahlfedern hallen laut und lange nach. In Gent wirkt selbst der Hall eigentümlich: klar, trocken, analytisch. Das liegt an der Architektur. Die Büros und das aus Mangel an öffentlicher Förderung noch nicht digitalisierte Archiv von rund 36.000 Konzertaufnahmen der seit 1968 veranstaltenden Logos Stiftung liegen in einem dreigeschossigen Altbau an der Kongostraat. Mit diesem Haus verbunden ist das neuere Gebäude von 1990, das Raes selbst aus Stahl gebaut hat, vorwiegend geschweißt: das Tetrahedron, auf Deutsch ein Tetraeder, ein pyramidenartiger Körper. Raes kommt in Fahrt: »Im Tetraeder gibt es nur Winkel von 60 Grad und so gut wie keine klassischen rechten Winkel. Für den Klang heißt das: Es gibt keine Resonanzen, die ihn womöglich weicher oder basslastiger oder auf andere Art ungenauer machen. Hier drin klingt alles neutral oder: wahr.«

Selbst ein brennender Atheist kann an das Wahre glauben. Oder an das Ewige. »Die Vermeidung rechter Winkel habe ich von meiner Beschäftigung mit Buckminster Fuller, der sich ja auch fragte: Warum bauen wir freiwillig derart instabile Gebäude, wie es ein Quader zwangsläufig ist? Ein Tetraeder würde ab einer gewissen Materialmasse jedes Erdbeben überleben.«

Wir steigen über Leitern und Gitterböden in den zweiten und dritten Stock seines Tetraeders, wo Oszillatoren für alte Synthesizer auf Tischen liegen nebst anderer Elektronik. Ein Dreieckfenster gibt den Blick frei auf die Bomastraat, mittlerweile fällt Nachmittagslicht auf die Bibliothek mit vielen alten Goethe-Bänden auf Deutsch. »Meine Mutter hat Deutsch mit mir gesprochen, ich spreche es noch, aber wie ein Kind. Goethe hält es am Leben: Schon ewig schreibe ich an einer Oper zum ›Faust II‹. Die wird wohl nie fertig.«

Schaltkreise bauen, Software schreiben, Goethe im Original studieren, Schweißerbrille aufsetzen: Godfried-Willem Raes hat viele Fähigkeiten, manche Bewunderer haben ihn schon einen Renaissancemenschen genannt, weil die Wissenschaften in der frühen Neuzeit noch nicht so voneinander getrennt waren wie heute. Doch am Anfang seiner Leidenschaften steht eine moderne Jahreszahl: 1958, die Expo in Brüssel und der niederländische Pavillon der Gerätefirma Philips.

»In meinem Brüsseler Kindergarten durfte damals einzig Französisch gesprochen werden, ich verstand aber nur Deutsch und Niederländisch. Also setzten die mich immer wieder ein paar Stunden in den Philips Pavillon, dort war alles niederländisch.« Hunderte Male hat der Sechsjährige auf der Expo den »Poème électronique« des Komponisten Edgard Varèse gehört, wiedergegeben von zahllosen Lautsprechern, die überall im hoch aufragenden, zelthaften Gebäude von Le Corbusier und Iannis Xenakis hingen.

Der flämisch- deutsche Junge wollte bald wissen, woher diese Geräusche kamen. Auch weil manche ähnlich klangen wie das Fiepen des sowjetrussischen Satelliten Sputnik, dem ersten im All. »Als ich elf war, kam die Polizei vorbei und konfiszierte meinen selbstgebauten, leider illegalen Radiosender.« Seine Faszination für die Elektrotechnik konnte ihm später auch das Konservatorium nicht austreiben. Und doch dauerte es nach den ersten Robotern eine Weile, bis Raes wieder Automaten baute. »Wir haben uns hier bei Logos intensiv mit elektronischer Klangerzeugung beschäftigt, mit analogen Synthesizern. Technisch ist das interessant, aber für die Bühne taugt es nichts: Man sieht nur Knöpfe. Eine Aufführung ohne Körper, Gesten, ohne Verführung ist keine Aufführung!«

In der Werkstatt im zweiten Stock des Tetrahedrons stapeln sich alte Netzteile, Verteiler, Kondensatoren, Oszillatoren. Hauptsache: Alles ist selbst gebaut © Sarah Bastin
 

Die Lösung für die Abstraktion: Bewegungssensoren, etwa auf der Basis von Radar, ermöglichten die Interaktion von Körpern und Maschinen. Raes springt auf und führt tanzend die Steuerungsmöglichkeiten vor. Fast alle der Roboter verfügen über ähnliche Systeme, um im Raum interagieren zu können. Viele haben Räder und lassen sich auf der Bühne verschieben, nichts bleibt konstant. »Es ist ein Mythos, zu denken, dass Maschinen perfekt seien. Sie sind es nie.«

Diese gleichsam atmende Imperfektion ist wohl einer der Gründe, warum einer der innovativsten Technomusiker der Welt in Gent akustische Musikmaschinen bestellt, der Brite Aphex Twin. Auf seinem Album »Computer Controlled Acoustic Instruments Part II« erklingen viele Erfindungen von Raes. Es ist aufregend, den Robotern zuzuhören. Noch sinnlicher ist nur, ihnen dabei zuzusehen. Die Maschinen, sie sind die gar nicht mal so neuen Verführer. Zum Abschied lässt Godfried-Willem Raes  sein Roboterorchester einen Tango spielen.

Tobi Müller ist freier Kulturjournalist und Autor. Er schreibt und spricht über die darstellenden Künste, Pop und digitale Themen